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Weiterhin fällt auf, dass Faustus sich mit einem dreiteiligen, latinisierten Namen vorstellt, was einer Mode der Humanisten entsprach. Eine solche Namensform galt als Programm, geradezu als Renaissance-Programm. Der Name "Faustus" ist dabei für einen Astrologen und Wahrsager zudem besonders günstig gewählt, denn er bedeutet zu deutsch "glücklich" oder "glücksverheißend", war also gewissermaßen Aushängeschild seiner Kunst.
Worin diese Kunst genau besteht, wird dann im Einzelnen aufgelistet. Nekromantie ist die Kunst, Tote ins Leben zurückzurufen, also genau das, was sich in der diskutierten Szene am Kaiserhof zuträgt, wenn der tote Alexander den Lebenden erscheint. Chiromantie ist die Handlesekunst, Hydromantie und Pyromantie die Vorhersage der Zukunft aus den Linien des Wassers bzw. aus der Gestalt des Feuers. Damit bietet die gesamte Liste einschlägige Hinweise auf die sogenannten mantischen Künste, d.h. die Techniken der Wahrsagerei, auf die Faustus sich, wie er hier ankündigt, verstand. Besonders interessant jedoch ist, dass dieser Magier sich auf seiner Karte als "Faustus iunior" und "magus secundus" ausweist. Was soll das heißen? Wer ist oder war dann Faustus senior, wer jener magus primus, in dessen Nachfolge er sich namentlich stellt?
Darüber ist viel gerätselt worden. Frank Baron meint, es handele sich um Zoroaster, jenen Ersten Magier oder Ur-Magier aus dem Zweistromland, Kulturgründer und Zivilisationsstifter der Frühgeschichte, der auch als Zarathustra bekannt ist. [...] Dieser Faustus sagt von sich, dass er "magus secundus", d.h. ein Wiedergänger oder auch Wiedergeborener sei. Er legitimiert sich und seine Autorität also dadurch, dass er die Autorität eines Vorgängers borgt. Das ist genau wieder jene schon beschriebene Grundfigur des Renaissance-Programms, der wir hier erneut begegnen: Das Aktuelle sucht Vergewisserung im Alten und schafft sich seine Genealogie, indem es sich einen Vorfahren wählt.
Dass Faustus einen regelrechten Teufelspakt geschlossen habe, kommt in den verstreuten Quellen als Behauptung zwar erst relativ spät auf, geht dann aber umso wirkungsvoller in die Überlieferungsgeschichte ein. Durchweg handelt es sich bei solcher Mythenbildung ja um volkstümliche und das heißt mündliche Tradierung, bei der mit jeder Weitergabe der Geschichte durch Nacherzählung Weiteres hinzugefügt wird. Dabei stammt der Leibhaftige als Faustens zeitweiliger Diener und eigentlicher Herr, dem er sich und seine Seele mutwillig verschrieben habe, wohl aus Wittenberg. Denn dieses zentrale und für uns entscheidende Motiv des Faustus-Mythos, das wir heutzutage mit ihm gleichsetzen, gelangt erst mit den Faustus-Erzählungen der Reformatoren zu Prominenz und Relevanz.
Schon an diesem Detail zeigt sich beispielhaft, dass Luthers Erzählungen und Aufzeichnungen der wichtigste Quellenbestand für die spätere Historia bilden, die sich im Grunde durchweg als ein lutheranisches Propagandabuch verstehen lässt. [...]
Beiläufig fällt bei Tisch der Name Faustus, was offenbar den Reformator motiviert, sogleich von seinen eigenen Auseinandersetzungen mit dem Leibhaftigen zu erzählen. Magister Faustus bietet Doktor Luther anscheinend willkommenen Anlass, seinen Tischgenossen zu erklären, wie er selbst mit dem Teufel fertig geworden ist: Gerungen und gekämpft habe er mit ihm, auf Leben und Tod, "aber mit Gottes Wort" sich letztlich seiner erwehret – gerade anders als Faustus, der sich von Gottes Wort abgewandt und dem Teufel ganz verschrieben habe. Luther siegt, wo Faustus versagt: So wird mit der Erzählung eine klare Grenze gezogen. Gleichzeitig allerdings wird durch derartige Geschichten die Faustus-Figur in den frühen, umkämpften Jahrzehnten der Reformation zunehmend enger mit dem Wirken der Reformatoren assoziiert – als Gegenfigur und erklärtes Gegenbeispiel zwar, aber dadurch zugleich als Referenzfigur, deren heilloses Leben eine dunkle und dämonische Parallele zum heilsgewissen Leben eines Doktors Luthers darstellt.
Diese Assoziierung geht so weit, dass im weiteren Verlauf der Überlieferung, wie die Historia dann deutlich zeigt, sogar der Studien- und Wirkungsort von Faustus selbst in Wittenberg gesehen wird und nicht mehr, wie zuvor meist, in Württemberg. Die geographische Verschiebung aus dem süddeutschen in den mitteldeutschen Raum und damit in das Kernland des dt. Protestantismus ist hoch bedeutsam, weil sie die kulturelle Verbindung zwischen dem Reformator und Faustus enger zieht. Auf ganz eigentümliche und signifikante Weise werden der Teufelsbekämpfer und der Teufelsbündler damit aneinander, wenn nicht gar ineinander gerückt. Das ist nicht nur deshalb eine folgenreiche Entwicklung, weil sie bis zur wichtigsten Faustus-Version des 20. Jh.s reicht, dem großen Roman Thomas Manns, in dem die titelgebende Faust-Figur in Sprache, Habitus und Herkunft als eine Lutherfigur gezeichnet wird.
Magus secundus, Magus maximus
Grundsätzlich macht eine solche Assoziierung evident, worin die mythenbildende Funktion von Faustus liegt: in seiner Rolle als kultureller Wiedergänger. Mir scheint, dass die Figur deshalb zu einem Mythos der Renaissance geworden ist, weil in ihr, wie in einem Sammelbecken, die dunklen und dämonisierten Aspekte der Renaissance-Kultur zusammenfließen. Faustus ist ein "magus secundus", wie wir gesehen haben, d.h. ein Nachkömmling, ein Abkömmling. Meine Vermutung wäre, dass diese Figur in der kulturellen Gestalt, in der wir sie durch die diversen Texte kennen lernen, von genau den Autoritäten herkommt oder sogar abstammt, die sich von ihr abzugrenzen suchen: von Luther, von Melanchton, von Trithemius und den vielen anderen Geistesgrößen dieser großen Aufbruchszeit. [...]
Die Grenzen zwischen Weißer und Schwarzer Magie, zwischen religiös fundierter und dämonisch instrumentalisierter Beschwörungskunst sind prinzipiell sehr schwer, wenn überhaupt, zu ziehen – genauso schwer, wie man vielleicht den dauernden Kampf mit dem Leibhaftigen von einem Pakt mit dem Leibhaftigen unterscheiden kann. In beiden Fällen liegt offenbar eine sehr intensive wechselseitige Beziehung vor, und wie sie jeweils endet, bleibt wohl länger ungewiss. Um solche Grenzziehungen aber immer wieder neu zu unternehmen, um Kampf von Pakt und Weiße von Schwarzer Magie zu unterscheiden, dazu wird, so meine ich, der Faustus-Mythos aufgeboten.
Jesus Faustus: Identifikations-, Projektions- und Deportationsfigur
Von jenem Wanderwahrsager selbst ist uns kein einziges Wort überliefert. Er ist ein Mythos in genau dem Sinn meiner eingangs skizzierten Definition: Er dient stets anderen zur Selbstbestätigung und Selbstbeschreibung, und zwar dadurch, dass sie sich kategorisch von seinem Tun und Treiben abgrenzen. Gerade aber weil von Faustus selbst kein Wort überliefert ist, sehen wir ihn gewissermaßen nur als Hohlform, im Zeugnis oder Urteil anderer und zwar zumeist solcher, die ihn kritisieren, verurteilen, verfemen und vertreiben wollen. Faustus ist eine Projektionsfigur, die uns gewiss größeren Aufschluss über die jeweiligen Erzählautoritäten, die von ihm berichten, gibt als über das, was sie von ihm erzählen. Wenn nämlich viele frühe Quellen, wie erwähnt, von der Ausweisung Faustens aus der Stadt berichten, d.h. von dem Versuch, seine Wirkungsmacht aus der christlichen Gemeinschaft auszuschließen, erzählen sie und doch in erster Linie davon, was diese Gemeinschaft kulturell beunruhigt und umtreibt und was daher unterbunden werden soll. Somit aber erscheint Faustus meist als ein dämonisierter Wiedergänger, ja als Doppelgänger genau jener weltlichen wie religiösen Autoritäten, die gegen ihn zu Felde ziehen. [...]
Kulturelle Ungewissheiten (um den 9/11-Mythos)
Das zeigt sich vielleicht auch an den eigentümlichen Namenswechseln, die bei der Überlieferung ins Auge fallen. Auf der Visitenkarte, die Johannes Trithemius zitiert, nennt er sich "Georgius", in der Historia heißt er "Johannes" und trägt mithin denselben Vornamen wie Trithemius selbst. Bei Goethe später heißt er "Heinrich", was sicher als Anspielung auf Heinrich Cornelius Agrippa zu verstehen ist, den großen Okkultisten, der ebenfalls als Gegen- wie Modellfigur zu Faustus gelten kann. Auf diese Weise mag der Namenswechsel ein weiteres Indiz für die Funktion des Faustus-Mythos sein, als Feind- wie zugleich Abbild strittiger Denker zu fungieren und daher denen, die sich von ihm abgrenzen, namentlich verbunden zu bleiben. Eins jedenfalls ist unbestreitbar: Dass Faustus über so lange Zeit so viele Geister der Renaissance umtreibt und so regelmäßig als Negativexempel dienen muss, ist nur verständlich, weil in der Figur fundamentale Unsicherheiten dingfest gemacht werden sollen. Sie dient zur Feststellung, wenn nicht zur Austreibung, kultureller Ungewissheiten ihrer Epoche.
Der Mythos von Doktor Faustus ist, so lässt sich der Befund zusammenfassen, also ein frühneuzeitliches Krisenbewältigungsprogramm, d.h. der Versuch, durch volkstümliche Überlieferung für Orientierung und Absicherung zu sorgen. Deshalb liest sich seine Geschichte wie eine umgekehrte Heiligenlegende, und deshalb sollten wir bei der Lektüre, um das zugrunde liegende Krisenbewusstsein festzustellen, die Deutungsmuster des Erzählens umkehren. Beispielsweise heißt es bei Trithemius, dass Faustus sich gerühmt habe, über ein so umfangreiches Wissen und Gedächtnis zu verfügen, dass er das Gesamtwerk der Philosophie seit Platon und Aristoteles im Kopf trage und dass er, falls dieses Werk einmal verloren gehen sollte, es auswendig wiederherstellen könne. Zur Deutung dieser Anekdote müssen wir bloß die Wertungszeichen umkehren. Trithemus erzählt sie als Ausdruck von Faustus Vermessenheit und Prahlerei, aber was drückt sich darin anderes aus als eine große kulturelle Hoffnung der Renaissance, vielleicht die zentrale Hoffnung der gesamten Epoche, der großen antiken Überlieferung erneut habhaft zu werden, d.h. sich deren Wissen anzueignen und dadurch über die antiken Größen noch hinauszugelangen? Diese Leistung der Memoria, die an der Faustus-Figur negativ markiert wird, stellt also im Grunde eine positive, vielleicht unerreichte oder unerreichbare, jedenfalls aber programmatische Kulturleistung dar, der sich jene Zeit ganz ausdrücklich verschrieben hatte. Ähnlich ließe sich die oft kolportierte Geschichte von Faustens Flugübungen deuten. [...]
Als Exempel ist Faustus gerade nicht ein Ausnahme-, sondern ein Modellfall. Seine Lebensbeschreibung, kompiliert aus vorliegenden Schriften, zeigt damit etwas, das in hohem Maße typisch, weitverbreitet und charakteristisch ist für jene Zeit, so dass sich viele Leser darin wiederfinden mögen. Bei dem "Fürwitz" nämlich, der auf dem Titelblatt genannt wird, handelt es sich um jene Curiositas, die bald zur Leitidee der neuzeitlichen Forschung aufsteigt und signalisiert, dass hier fortwährend Grenzen des Bekannten und Erlaubten überschritten werden. Die Grenzüberschreitung manifestiert sich mit den Entdeckungs- und Eroberungsfahrten, beispielsweise in die Neue Welt, zudem im konkreten geographischen Sinn: Sie erweitert physisch den Horizont, führt über die Säulen des Herkules, die für die Antike das Ende der bekannten Welt darstellten, hinaus und begründet dadurch die neue Wissenschaft.
Von ihrem schauerlichen Ende her gelesen ist die Historia, wie wir gesehen haben, ein streng didaktischer und streng lutherischer Traktat, der uns die Schrecknisse des gotteslästerlichen Lebens vor Augen führen will. Von seinem Titel und Anfang her gelesen allerdings wird diese didaktische Absicht immer wieder unterlaufen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die Erzählung ihren Lesern erstaunlich detaillierte Einsichten in all das vermittelt, was man mit solcher Curiositas erfährt. Das ist zugleich der Grund dafür, warum einige, insbesondere protestantische Städte das Buch so dezidiert zu unterdrücken suchten. Es bietet schlicht so viele Schilderungen magischer Kunst, dass fürwitzige Leser es glatt als Lehrbuch nutzen können, um sich selbst in dieser Kunst zu üben. Denn um zu zeigen, wovon ein frommer Protestant sich fernzuhalten habe, muss all dies ja erst einmal veranschaulicht werden. Daher ist das ganze Teufels- und Beschwörungswerk, vor dem im Buch gewarnt wird, zunächst einmal darin enthalten. Statt also Zeitgenossen von der Magie abzubringen, wird sie ihnen darin praktisch gleich vermittelt. Solche fragwürdigen Vermittlerleistungen sind es schließlich auch, mit denen Faustus sich den Mächtigen der Welt andient. [...] Die kulturellen Kampflinien der Zeit durchkreuzen sich auf diese Weise in der Faustus-Figur wie im Mythos, der sie prägt.
"Theatricality and deception are powerful agents."
Damit sollte die eingangs aufgestellte These ausgeführt und in ihrem Kern begründet sein. [...] Was bislang noch nicht ausdiskutiert wurde, betrifft den zweiten Aspekt dieser These: dass es sich bei solcher Zwischengängerei ausdrücklich um einen Akt der Performanz und des Theaters handelt, dass Faustus also seine wirkungsvollste Rolle als Spielfigur auf dem Theater findet. Die Kultur- und Religionskonflikte, die in dem Faustus-Mythos ausgetragen werden, lassen sich erst dann wirklich verstehen, wenn wir den Blick auf die Bühne richten, d.h. auf Christopher Marlowe und seine englische Bühnenversion der Historia, die schon bald nach 1600 über Wanderschauspielgruppen den Weg zurück nach Dtl. findet.
Das Rollenspiel des Theaters wird damit zum Rollenspiel auf das Theater und zieht auf diese Weise das gesamte Publikum in den Bannkreis einer theatralen Selbsterkundung und kulturellen Reflexion. Aus diesem Grund, so meine ich, lässt sich der Faustus-Mythos zutreffend als ein Theater-Mythos auffassen, denn solche Selbstreflexion – was ja nichts anderes als Selbstbeobachtung eines Beobachters bedeutet – ist es eben, was das frühneuzeitliche Theater beabsichtigt und für die Kultur der Renaissance leistet. Was der Faustus-Figur an magischer Macht und Praxis zugeschrieben wird, entspricht exakt der Macht und Praxis des Theaters: Verstorbene zu neuem Leben zu erwecken. Im Rahmen der mantischen Künste nennt man diese Kunst "Nekromantie", was ja, wie wir an der Visitenkarte sehen konnten, zu Faustens Berufsbezeichnungen gehört. Im Rahmen des Theaters aber nennt man diese Kunst schlicht "Schauspielkunst", denn das genau unternimmt ja jeder Schauspieler, wenn er vor unseren Augen einer historischen Figur, die längst verstorben ist, für die Dauer einer Aufführung neues Leben gibt. Heutzutage scheint uns dieser magische Theater-Akt vielleicht nicht mehr bemerkenswert, für die Renaissance jedoch lag darin etwas ebenso Faszinierendes wie Beruhigendes – wie ist es möglich, dass wir als Zuschauer mit einem Mal die alten Helden leibhaftig vor Augen haben – weshalb die Schauspielkunst in England in der Tat lange heftig umkämpft war und gerade von den glaubensfesten Protestanten kategorisch abgelehnt wurde.